„Ich bin selber so ein richtiges Draußen-Kind!“

Gespräch mit Anna Vollmer, neue Leiterin der heilpädagogischen Wohngruppe "die9"

Seit Ende 2018 ist der Jurahof, ein idyllisch in der Hersbrucker Schweiz liegender Biobauernhof, Heimat der heilpädagogischen Wohngruppe „die9“. Hier bekommen Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen nach dem Konzept der sozialen Landwirtschaft individuelle Unterstützung, Orientierung und verlässliche Strukturen. Die ersten vier Jahre leitete Laura Kaa die Wohngruppe mit großem Einsatz, initiierte verschiedene Projekte und stellte ein ebenso engagiertes Team zusammen. Nachdem sie sich Ende vergangenen Jahres aus familiären Gründen und schweren Herzens vom Jurahof verabschieden musste, übernahm im Januar Anna Vollmer die Leitung der Wohngruppe. Im Gespräch mit ihr wird schnell deutlich, dass mit ihrer Erfahrung und Motivation erst gar keine Lücke entstehen konnte.

 

Frau Vollmer, ihre ersten fünf Monate auf dem Jurahof sind bald vorbei, können Sie schon eine erste kleine Bilanz ziehen oder wäre das noch zu früh?

Anna Vollmer: Ich glaube schon: Alles, was ich mir erhofft habe, ist tatsächlich so eingetreten. Ich hatte ja vorher ein bisschen Einblick in das Team, wie die miteinander arbeiten, die Vernetzung untereinander, wie der Ton ist, wie die Absprachen sind. Das hat sich so bestätigt und da bin ich total glücklich drüber. Natürlich hat es etwas gedauert, um sich an die Kombination aus Leitungsfunktion und Gruppendienst zu gewöhnen, das erfordert schon viel Energie. Gerade am Anfang, wo man so vieles noch nicht hundertprozentig weiß und sich einfach erstmal zurechtfinden muss, aber da braucht es einfach Zeit.

Als Mutter von drei Kindern im Teenageralter war das bestimmt eine gewisse Umstellung?

A.V.: Genau, aber die sind natürlich schon ziemlich selbstständig und machen das gut und haben auch den Ortswechsel gut verkraftet. Wir haben ja vorher in der Nähe von Augsburg gewohnt, also 200 Kilometer von hier entfernt und haben dort alle Zelte abgebrochen. Aber sie haben sich darauf eingelassen und deshalb hat der Start auch ganz gut geklappt. Wir wohnen jetzt hier in der Nähe, das ist praktisch, da kann ich mit dem Fahrrad herfahren. Und meine Kinder haben den Bahnhof am Ort und sind dann einfach selbst mobil, ohne dass ich ständig fahren muss.

Sie waren in ihrer vorherigen beruflichen Stelle auch schon im pädagogischen Bereich tätig?

A.V.: Ja, ich habe da 19 Jahre in einem Kinderheim gearbeitet, zunächst mehrere Jahre im Gruppendienst, dann war ich in Elternzeit und später dann als pädagogischer Fachdienst, also gruppenübergreifend als Naturerlebnispädagogin. Und das war der eine große Bereich und daneben auch Mädchen für alles, also überall im Einsatz, wo es gerade fehlt oder überall, wo andere Mitarbeiter*innen keine Zeit hatten, wenn zum Beispiel ein Konzept geschrieben werden muss.

Diese Erfahrungen im naturpädagogischen Bereich waren ja ideale Voraussetzungen für den Jurahof?

A.V.: Ja, das ist auch der wesentliche Grund gewesen, hierher zu kommen. Das Einmalige hier ist ja diese wirtschaftlich arbeitende Landwirtschaft in Kombination mit der stationären Jugendhilfe. Wir hatten in dem Kinderheim, wo ich vorher war, auch Tiere, Esel, Schafe und Hühner und so, aber es war eher ein fake. Wir hatten zwar Tiere, aber wir haben uns nicht wirklich um sie gekümmert, sondern es kam jemand von außen, der das gemacht hat. Einzelne Kinder hatten zwar sporadisch Kontakt, aber das war nicht so wie hier. Dieses regelmäßige, tägliche Verantwortlichsein dafür, dass Tiere gefüttert und versorgt werden, also dieses echte, authentische Zusammenleben.

Und das haben Sie jetzt auch hier schon erlebt, wie das funktioniert, wenn die Jugendlichen Verantwortung übernehmen und ihnen das dann auch für sich selber etwas bringt?

A.V.: Ja, genau. Also das eine ist der Teil „Ich übernehme jetzt Verantwortung“ und das andere ist die Feststellung, dass mir die Tiere guttun. Dieses ruhige Setting hier am Jurahof mit viel Grün, mit viel Platz, das wirkt sich einfach positiv aus. Das habe ich in der Zeit hier schon mehrfach erlebt, dass ein Kind in der Gruppe voll aufdreht und dann plötzlich sagt „Und jetzt geh ich raus!“. Und dann geht es raus und du gehst hinterher, um nachzusehen - und dann sitzt der- oder diejenige in aller Ruhe total versunken zum Beispiel bei irgendeinem Kälbchen und kann wirklich abschalten und weg von diesem ganzen Stress und zu sich finden. Und das ist das Wertvolle hier, etwas, das eigentlich mit so wenig Aufwand für uns eine totale Hilfe in der pädagogischen Arbeit ist.

Sie waren schon bei einigen Aufgaben und Arbeiten dabei und haben mit angepackt. Da vieles noch relativ neu war, konnten Sie wahrscheinlich auch umgekehrt von den Jugendlichen etwas lernen?

A.V.: Das stimmt, aber tatsächlich war vieles nicht ganz neu für mich. Also in der Landwirtschaft mit den Tieren schon, aber ich habe in meiner alten Arbeitsstelle ja auch ein gutes Jahr in der hauseigenen Demeter-Gärtnerei verantwortlich gearbeitet und bin wirklich so ein richtiges „Draußen-Kind“. In der Erde zu wühlen macht mir sehr viel Spaß und natürlich alle Dienste hier, von Ställe einstreuen über Hühnereier abnehmen, die Kühe auf die Weide treiben, Bulldog fahren, da bin ich wie alle anderen auch mit eingebunden und mit viel Spaß dabei!

Natürlich ist jeder einzelne Mensch anders und mit jedem muss man anders umgehen. Aber ist es im großen Ganzen diese komplette Andersartigkeit auf dem Jurahof, dieser krasse „break“, der dann auch Auslöser für eine andere Entwicklung sein kann?

A.V.: Teils, teils. Also wir haben Jugendliche, die kommen aus einer landwirtschaftlichen Umgebung oder aus einer ländlichen zumindest. Für die ist manches vertraut hier. Und dann haben wir tatsächlich Jugendliche, für die ist es eine andere Welt und die staunen erstmal nur. Aber sie erfahren dann durch ihre Mitarbeit am Hof Wertschätzung. Und durch die Selbstwirksamkeit, die sie erfahren, merken sie also „Ich kann was und ich bin irgendwie etwas wert“. Und das ist natürlich enorm wichtig dafür, dass diese jungen Menschen stabil stehen und sich dann auf dieser Basis weiterentwickeln und ihr eigenes Leben finden können. Also diese Erfahrung ist für viele wirklich Gold wert, mit der sie dann starten können.

Hatten Sie auch schon so ein Erlebnis, dass plötzlich enorme Veränderungen oder Fortschritte bei den Jugendlichen festgestellt werden können oder sind es doch eher längerfristige Entwicklungen?

A.V.: Ja, das sind schon längerfristige Prozesse und die meisten Jugendlichen waren ja schon hier, als ich kam und das auch zum Teil über längere Zeit. Und trotzdem ist es dann so, wenn jemand Neues von außen kommt, so wie ich, dass die Jugendlichen, vor allem die Großen, dann unheimlich stolz sind, alles zu präsentieren, was sie dürfen oder können und alles so selbstverständlich beherrschen. Ich versuche dann natürlich, dieses Gefühl bei ihnen nochmal zu verstärken und zu fragen, ob sie mir das nochmal zeigen können oder ob ich da mal mitgehen darf. Denn genau das ist diese wichtige Erfahrung: „So, und jetzt kann ich ja mal was besser als du!“

Als erlebnispädagogisches Projekt gab es hier vergangenes Jahr die „Wildniszeit“, eine Dreitagestour alleine mit Betreuer*innen in der Natur. Haben Sie irgendwas Ähnliches mitgebracht oder geplant oder im Hinterkopf?

A.V.: Also diese Wildniszeit ist für mich nichts Neues oder Ungewöhnliches. Das war ja quasi mein täglich Brot als Naturerlebnispädagogin. Wir haben es jedes Jahr gemacht, entweder zu Fuß, mit den Fahrrädern oder dem Kanu, dass wir einfach irgendwo losgelaufen sind und geguckt haben, wie weit kommt man, mit Übernachtungen mitten im Wald. Oder wir waren mal eine Woche an einer Station im Wald, ohne Wasserhahn, ohne Strom, das ist also tatsächlich für mich nicht ungewöhnlich und ich wünsch mir auch, dass sich das fest etabliert. Vielleicht auch mit wenig Aufwand, dass man das irgendwie in den Alltag integriert, also am Wochenende spontan sagt: „Wir laufen heute Morgen los.“ Also das ist mir auf jeden Fall ein Anliegen, an sich selbst zu spüren, dass man zwar ein ganzes Wochenende auf dem Sofa liegen und sich vermeintlich erholen kann. Man kann aber auch ein ganzes Wochenende im Wald laufen und ist dadurch noch viel mehr erholt, trotz der körperlichen Anstrengung. Und gerade für die Jugendlichen, die eher orientierungslos sind und gar nicht wissen, womit sie sich beschäftigen sollen. Spielen ist was für Kleinere, Erwachsenentätigkeiten interessieren sie aber noch nicht so und für Dinge wie Fahrradfahren sind sie manchmal zu bequem - da dann einfach den Eifer reinzubringen und zu sagen, wir machen das als Gruppe und daraus entsteht ein tolles Erlebnis für alle zusammen, das ist mir wichtig.

Es gibt verschiedene Projekte, die die Jugendlichen in Eigenregie mit angestoßen haben, die Fahrradwerkstatt, eine Chill-out-Area oder das Gewächshaus aus Fenstern. Wie wichtig ist, dass die Jugendlichen hier auf dem Hof sich ein bisschen selbst verwirklichen und einbringen können?

A.V.: Das ist wichtig, auf jeden Fall! Also da kommen zwar auch Unterstützer von außen, zum Beispiel beim Gewächshaus, da haben die „Round-Tabler“ mitgebaut und beim Chill-Raum die Betreuer, aber jetzt im Moment wird mal wieder in der Werkstatt gearbeitet, also aus der Fahrradwerkstatt soll eine professionelle Holz-Metall-Alles-Werkstatt werden und wir bauen hinten auf der Wiese eine große Hütte, wo auch Freunde und Gönner von außen kommen und sagen „Wir helfen euch und machen das mit den Jugendlichen zusammen“. Das freut mich total und das ist mir auch wichtig, dass diese Einrichtung hier nicht als Schreckgespenst in der Gegend wahrgenommen wird und sich die Leute nicht fragen, was wir da am Hof eigentlich so machen? Auch um solche Vorurteile gar nicht entstehen zu lassen, dass niemand wüsste, was die so machen oder dass da eben gestörte Jugendliche sind, mit denen man lieber nichts zu tun haben will - sondern dass sich das öffnet nach außen und dass die unmittelbaren und auch die weiter entfernten Nachbarn einfach einen Begriff haben davon, was hier so passiert. Unter diesem Zeichen haben wir jetzt auch unser Sommerfest dieses Jahr geplant, das einerseits die Jubiläumsfeier ist, aber auch damit gekoppelt ist, eben mit allen gemeinsam den Sommer zu feiern und für alle die Türen zu öffnen: „Kommt, schaut, was machen wir, worum geht es, was sind das für Jugendliche?

Gibt es noch einen Aspekt, der Ihnen wichtig ist, aber noch nicht erwähnt wurde?

A.V.: Ja, also worüber ich immer wieder erstaunt bin, ist das Team, also jeder einzelne Mitarbeiter. Was die alles mitbringen, an Kompetenzen und wie gut das abgestimmt ist hier und was für eine Haltung sie den Jugendlichen gegenüber haben, also die große Wertschätzung den Jugendlichen gegenüber und der respektvolle Umgang. Das habe ich nicht überall so erlebt und das geht mir zu Herzen, weil ich das so sehr schätze. Und da wirklich schätze ich alle meine Mitarbeiter enorm.

Vielen Dank für das Gespräch!

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