Bertrand Russell: Skeptischer Denker – engagierter Intellektueller

Moderator Frank Schulze, Foto: Luise Galm

Großer Zuspruch für das Symposium im Marmorsaal, Foto: Frank Schulze

Diskussion über Russells Ideen, Foto: Ulrike Ackermann-Hajek

Der große Zuspruch beim Symposium im Nürnberger Marmorsaal bestätigt Einfluss und Bedeutung seiner Ideen bis heute.

Eigentlich hatten sich die Veranstalter von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg (GKPN)  und der Humanistischen Akademie, dem Studien- und Bildungswerk der Humanistischen Vereinigung, das 50. Todesjahr Bertrand Russells als Zeitpunkt für dieses Symposium gewählt. Dennoch konnte es erst jetzt, mit gut eineinhalbjähriger Verspätung, im Marmorsaal des Presseclubs Nürnberg am Gewerbemuseumsplatz auch wirklich stattfinden. Dementsprechend erleichtert und herzlich wurde das zahlreich erschienene Publikum von den beiden Vorsitzenden der veranstaltenden Organisationen, Dr. Frank Schulze (GKPN) und Rainer Ruder (HA), begrüßt.

Unter dem Titel „Wofür es sich zu leben lohnt“ brachte Dr. Dr. Joachim Kahl der Zuhörerschaft anhand des Vorworts der Autobiographie Bertrand Russells dessen wichtigste Motive und Beiträge zur Philosophieentwicklung des 20. Jahrhunderts nahe. Anhand der drei von Russell dort thematisierten existenziellen Bereiche Liebe, Erkenntnis und Mitleid beleuchtete der Referent die spezielle Haltung des Philosophen. So leiste dieser mit seiner leidenschaftlichen Philosophie eine Rehabilitation der Gefühle und verabschiede sich vom stoischen Ideal der Leidenschaftslosigkeit, sehe Leidenschaft sogar als wichtigstes Triebmittel des Lebens und der Philosophie. Auch wenn er vom Mitleid mit der Menschheit gebeutelt wurde und sie und sich immer wieder am Rand des Abgrunds sah, wurde Russell kein Nihilist oder Pessimist, sondern er bewahrte sich seinen Humanismus, die Neugier und die Empathie mit den Menschen.

Mit dem Skeptizismus Russells setzte sich Prof. Dr. Rudolf Lüthe unter dem Titel „Vom Wert des Zweifels. Anmerkungen zur skeptischen Grundorientierung der Philosophie Bertrand Russells“ auseinander. Der Referent ging von drei wichtigen skeptischen Positionen aus: von der Poppers, Kants und Humes. Zunächst stellte er Russells Haltung zu den dreien heraus, zeigte die Ähnlichkeiten und Unterschiede, besonders im Verhältnis zum Empirismus, mit dem sich Russell immer wieder auseinandersetzte, da er einerseits nur überprüfte, vernünftige Wahrheiten bzw. Wahrscheinlichkeiten gelten lassen konnte, andererseits den radikalen Empirismus Humes ablehnte.

Nach einer Diskussionsrunde und der Kaffeepause stellte Prof. Dr. Harald Seubert in seinem Vortrag „Bertrand Russell über wissenschaftliche Philosophie und den Beitrag der Psychologie zu Ethik und Politik“ dessen philosophische Entwicklung von ihren Anfängen her dar, um anschließend die von diesem eingebrachten Veränderungen des philosophischen Diskurses zu beleuchten. Seiner kritischen Integration der Psychologie in die Ethik entsprangen auch Russells Vorschläge zur Erziehung und seine Haltung zur Politik, die stets die Vernunft und aufgeklärte Kommunikation in den Diskurs einbringen wollte. „Freiheit“ war eines seiner höchsten Güter, und so lehnte Russell Revolution und Diktatur als Einmischung in individuelle Angelegenheiten ab. Er zielte auf eine aufgeklärte, wache politische Haltung zur Welt, mit dem Ziel der Verständigung, als gelebtem „Common Sense“.

Die Referate nach der Mittagspause befassten sich mit Russells politischer Entwicklung und Haltung und seinem Engagement. Zunächst hob Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber in seinem Vortrag „Russells Sozialismus-Verständnis. Entwicklung und Positionen eines antikommunistischen und demokratischen Sozialisten“ dessen Ausnahmestellung unter den Intellektuellen der 1920er-Jahre hervor, da er sich nicht vereinnahmen ließ und seine Ideale immer beibehielt. In der Bilanz stellte der Referent fest, dass für Russell immer „ein Freiheitsprimat bestand“, auf dem sein antikommunistisches und demokratisches Sozialismus-Verständnis basierte. Für ihn hätten Freiheit und Grundrechte immer Priorität vor Gleichheit und Sozialismus gehabt.

Im zweiten Vortrag aus dem „Schwerpunkt Politik“ erläuterte Prof. Dr. Wulf Kellerwessel „Russells Kritik am Nationalismus und seine Idee einer Weltregierung“. Als Ausgangspunkt zeigte der Referent, dass Russell für das Verhältnis der Nationalstaaten untereinander eine ähnliche Diagnose stellte wie Hobbes für das Verhältnis der Einzelmenschen zueinander – es herrsche ein Krieg aller gegen alle, solange es keine starke Oberherrschaft gebe, die Kriege verhindere. In der kritischen Würdigung der Russell’schen Vorschläge hob der Referent die gewaltsame Errichtung eines „Weltstaates“ als besonders fragwürdig und realitätsfern hervor. Es wäre eine Katastrophe mit immensen Opfern geworden, und die ungelöste Frage einer Kontrolle einer „Weltregierung“ bliebe bestehen. Wer sollte deren Missbrauch durch Einzelstaaten verhindern?

In der anschließenden Diskussion wurde vor allem Russells „Top-down“-Ansatz (vernünftige Menschen/Wissenschaftler finden eine Lösung) kritisch gesehen, da man in Gefahr wäre, die beteiligten Völker „bottom up“ zu vergessen. Als gelungenes Experiment einer Föderation wurde die EU in den Raum gestellt, mit dem Hinweis, dass damals die wirtschaftliche Seite der Ausgangspunkt war – und dieses Vorgehen wohl am leichtesten viele Menschen einbinde.

Anschließend befasste sich Dr. Martin Morgenstern mit „Russells Religionskritik“. Er ging von den beiden Büchern Russells zum Thema „Warum ich kein Christ bin“ und „Religion and Science“ aus und verwies auf Russells im ganzen Werk verstreute Grundhaltung, die sich in dem Satz „Alle Religionen der Welt sind sowohl unwahr als auch schädlich“ zusammenfassen ließe.

Die Abschlussdiskussion wurde mit der „Gretchenfrage“ eröffnet: Kann man heute – als aufgeklärter Mensch oder Wissenschaftler – noch Christ oder anderweitig gläubig sein? Prof. Dr. Seubert führte die schon in der Bibel verbriefte „Gleichheit vor Gott“ als Beginn eines aufgeklärten Menschenbildes ein und hielt – bei stetem Bewusstsein für die Verbrechensgeschichte der Religionen/des Christentums – ein Bedürfnis nach Orientierung an einem dem Menschen nicht verfügbaren Grund für einen Teil der Selbstaufklärung der Vernunft. Dr. Dr. Kahl stimmte der Gleichheitsthese zu, verwies aber darauf, dass die Vorstellung des „erwählten Volkes“ vom Judentum auf das Christentum übergegangen sei und dort zum Missionierungswahn geführt habe.

Bei der zweiten Frage ging es um die nachhaltige Wirksamkeit Russells: Warum sollte man sich heute noch mit Russell beschäftigen bzw. ihn jungen Leuten empfehlen? Dr. Morgenstern stellte Russell als Aufklärer in den Vordergrund, der mit seinen kurzen, provokanten Texten und seiner strengen Vernunftkultur auch weiterhin für die notwendige Fortsetzung des „Projekts Aufklärung“ sorgen könne. Dr. Dr. Kahl hält vieles aus den Texten für veraltet und von nur noch akademischer Bedeutung. Für ihn bleibt Russells praktische Umsetzung der Ethik, wie im Russell-Tribunal, beispielhaft. Insgesamt wurde auf die Schwierigkeiten hingewiesen, junge Menschen für die altmodische Form der Lektüre dicker Bücher zu gewinnen.

Die dritte Frage befasste sich mit Russells politischem Denken und den heute daraus möglichen Lehren. Die Beantwortung dieser Frage spitzte sich rasch auf das Stichwort „Identitäten“ zu. Wie im Nationalismus komplexe Identitäten eingeebnet wurden und werden, so steht im Moment das Problem der sog. „Cancel Culture“ als Beispiel für das Spannungsfeld von offener Gesellschaft und Gruppeninteressen. Das Ideal einer Weltregierung, was ja ein Ausbau der offenen Gesellschaft wäre, treffe im Moment auf politische Identitäten, die eigentlich nach sozialen Kriterien entstehen und moralisierend vertreten werden.

In der Schlussrunde bedankten sich alle für die gelungene Veranstaltung. Dr. Dr. Kahl erläuterte seine Skepsis gegenüber Russells Konzept der Weltregierung, denn er vermisse die Berücksichtigung der Ambivalenz der menschlichen Natur. Man könne von Russell aber eine optimistische Skepsis lernen. Prof. Dr. Lüthe empfahl seinerseits, den Geist der Skepsis gegenüber Klassikern zu wahren, denn auch wenn Russell argumentativ immer brillant sei, sei nicht alles richtig. Für Dr. Morgenstern bleibt Russell ein wichtiges Beispiel für einen modernen Aufklärer, und Prof. Dr. Seubert zeigte sich beeindruckt von Russells Gradlinigkeit und „aufrechter Haltung“ in Bezug auf die politischen Veränderungen im Laufe des 20. Jahrhunderts.

Dr. Frank Schulze verabschiedete pünktlich die Teilnehmer und lud zum nächsten Symposium ein, das am 9. April 2022 Seneca gewidmet sein wird.

Text: Ulrike Ackermann-Hajek

Facebook ButtonTwitter ButtonInstagramm Button

So können Sie unsere Internetseite im Browser vergrößern, um die Lesbarkeit noch weiter zu steigern und natürlich auch verkleinern:

Die Strg-Taste (Strg = Steuerung) ist jeweils ganz rechts und links in der untersten Tastenreihe zu finden. Auf englischen Tastaturen heißt diese Taste Ctrl (= Control). Beim Mac anstelle der Strg- die Befehl-Taste (cmd) drücken.

  1. Strg-Taste gedrückt halten und +/- Tasten drücken. Im Firefox und Google Chrome kann die Größe mit Strg und 0 wieder auf Standard zurückgesetzt werden.
  2. Strg-Taste gedrückt halten und Mausrad drehen. Internet Explorer (IE): Nach oben drehen = vergrößern. Firefox: Nach oben drehen = verkleinern.
  3. Über das Menü: Im IE lässt sich die Schriftgröße im Menü Ansicht > Textgröße in fünf Größen ändern. Beim Firefox kann man über das Menü Ansicht > Schriftgrad die Darstellungsgröße schrittweise verändern oder zurücksetzen, die Tastenkürzel stehen daneben.

Alle 3 Möglichkeiten funktionieren zumindest im Internet Explorer und im Mozilla Firefox, die Variante 1. ist auch bei vielen anderen Browsern Standard.