Sommerinterview mit Michael Bauer

2021 – Das Jahr der großen Krisen, Hoffnungen und Zukunftsentscheidungen. Dieser Sommer ist anders als andere. Trotz geringerer Infektionszahlen hält die Corona-Pandemie die Welt weiter in Atem. Mit der Wahl am 26. September wird entschieden, welche Parteien und Politiker*innen die Weichen für die Bekämpfung dieser und weiterer Krisen in den kommenden Jahren stellen werden. Im August 2021 führten wir dazu und zu weiteren wichtigen sozial-politischen Fragen ein Interview mit Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen Vereinigung K.d.ö.R.

Herr Bauer, das letzte Jahr war für uns alle ungewöhnlich und herausfordernd. Wie blicken Sie auf die Corona-Krise bisher zurück?

Michael Bauer: Viele Menschen haben schwerste Erkrankungen durchgemacht, haben ihr Leben verloren, Angehörige trauern um ihre Liebsten. Fast alle kennen wir jemanden, der oder die betroffen ist, oder sind es sogar selbst. Furchtbare und erschütternde Tragödien haben sich abgespielt, direkt in unserer Mitte. Doch bei all dem Leid hat es auch etwas gegeben, was Hoffnung machen kann. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, die große Solidarität, der gemeinsame Wille, diese größte Herausforderung unserer Zeit zu bestehen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Und natürlich die Menschen, die mit immensem Einsatz Erkrankte versorgt, gepflegt, behandelt haben. Ihnen gebührt unsere Dankbarkeit und unser echter Respekt. Das gilt auch für unsere Kolleg*innen bei der Humanistischen Vereinigung. Sie haben trotz der für sie alltäglichen, auch ganz persönlichen Gefahr und unter schwierigsten Umständen ihr Bestes für die Kinder und Familien gegeben. Da wurde Großartiges geleistet.

Und vor welche Herausforderungen stellte die Pandemie die Humanistische Vereinigung?

Bauer: Als humanistische Organisation haben wir mit Menschen zu tun, da waren wir in allen Bereichen herausgefordert. Es freut mich sehr, dass dabei unsere Kolleg*innen mit so viel Geschlossenheit zusammenstanden. Solche Krisen bedeuten immer Veränderung und Anpassung. Deshalb ist während und wegen der Corona-Krise bei uns viel Neues entstanden, es sind neue Perspektiven entwickelt worden. Es hat bei uns einen Modernisierungsschub gegeben, wobei uns zugutekam, dass wir ohnehin schon auf dem Weg zu mehr Digitalisierung waren. Mit unseren seelsorgerischen und anderen Unterstützungsangeboten konnten wir ein wenig dazu beitragen, dass Hilfesuchende besser durch die Krise gekommen sind. Da sind wir auf die Probe gestellt worden und wir haben dazugelernt.

Welcher Beitrag in dieser Krise konnte denn aus einer konkret humanistischen Perspektive geleistet werden?

Bauer: Wir haben gezeigt, dass unsere humanistischen Werte in solchen schwierigen und schlimmen Situationen ebenso bei der Bewältigung solcher Herausforderungen leisten, wie es auch Religionen tun können. Es kommt eben darauf an, dass es für den*die Einzelne passt. Als Humanist*innen stehen wir für die menschliche Zuwendung, aber auch für ein bestimmtes Weltbild, in dem die Wissenschaften eine besondere Rolle spielen. In unserem Online-Kurs ‚So geht‘ Humanismus haben wir das unlängst ausführlich dargelegt. Ich finde, man darf nicht einfach darüber hinweggehen, dass es die moderne Wissenschaft war, die einen ganz wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir aus dieser Pandemie wieder herausfinden, sei es bei den Impfstoffen, der medizinischen Behandlung oder auch bei den Vorhersagen und Handlungsleitungen. Dass das gelungen ist, macht Hoffnung und Mut auch für die Lösung der anderen globalen Krisen, die ja nicht verschwunden sind. Ich finde es beruhigend, dass selbst in einer solchen Katastrophe wie der Covid19-Pandemie die Politik – bei aller Kritik an einzelnen Maßnahmen – immerhin soweit einen kühlen Kopf bewahrt hat, dass sie rationale Entscheidungen getroffen hat oder sich zumindest darum bemühte. Für uns Humanist*innen ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Politik die Erkenntnisse der Wissenschaft in ihre Entscheidungen miteinbezieht, um die Probleme unserer Zeit zu lösen und das menschliche Wohlergehen zu fördern.

Im Herbst steht die Bundestagswahl an. Die Humanistische Vereinigung ist die einzige öffentlich-rechtliche Organisation, die sich deutschlandweit für die Rechte und Interessen von Humanist*innen einsetzt. Was bedeutet es für Sie, Humanist zu sein?

Bauer: Wir haben nur dieses eine Leben, also her damit! (lacht) Aber im Ernst: Das kann man kaum in ein paar Worten sagen. Humanismus ist ja vor allem eine Haltung. Ich finde es ziemlich erleichternd, dass bestimmte Fragen, die einen nicht weiterbringen, für Humanist*innen keine Rolle mehr spielen. Ich bin davon überzeugt, dass man dem eigenen Leben nur selbst einen Sinn geben kann und dass es keinen großen Plan oder so etwas gibt. Dadurch gewinnt man ein gutes Stück Autonomie. Für die großen Lebensfragen kann man bei Bedarf auf die Erfahrungen und Tipps aus einer Jahrtausende umfassenden Reihe von Philosophie, Kunst, Literatur zurückgreifen. Das ist mehr als genug. Dazu kommt die Perspektive, die man auf das Leben selbst gewinnt. Wir sind alle Kinder der Evolution, nur winzige Teile in einer gewaltigen Abfolge des Lebens, als Menschen begrenzt und bestimmt durch unsere Biologie, auf einem winzigen Planeten im Weltraum. Das kann einem schon eine gewisse Gelassenheit ermöglichen. Schauen Sie mal nachts durch ein Fernrohr ins All, das relativiert vieles. Mir jedenfalls hilft eine humanistische Haltung ganz gut dabei, die für mich richtigen Werteentscheidungen zu treffen und eine emotionale Widerstandsfähigkeit gegen die Widrigkeiten, die mir manchmal begegnen, zu behalten. Die Fachleute nennen das Resilienz: Zurechtkommen, auch wenn es mal nicht so gut läuft. Für mich persönlich ist Humanismus auf jeden Fall eine Bereicherung und jeden Tag eine neue Entdeckung.

Das Grundgesetz regelt eindeutig, dass Weltanschauungsgemeinschaften – wie die Humanistische Vereinigung – den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt sind. Wie sieht die Realität aus?

Bauer: Ganz so eindeutig ist es leider nicht. Es gibt durchaus eine althergebrachte Rechtsmeinung, dass diese Gleichstellung eben nicht allumfassend wäre. Das wird zwar heutzutage von der Mehrheit der Jurist*innen so nicht mehr geteilt. Viele Regierungen ziehen sich aber noch immer auf diese Position zurück, damit sie den Status Quo erhalten können. Mehr noch als diese eher formale Frage finde ich den Umstand entscheidend, dass alle Bürger*innen auf jeden Fall gleiche Rechte haben, egal ob sie einer Religion oder Weltanschauung zugehören oder nicht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und auf dieser Grundlage gibt es noch sehr viel zu tun, sei es im Bereich von Kitas, der Pflege, des schulischen Unterrichts, der Seelsorge, der Entwicklungshilfe, der Medienpolitik, der Biopolitik – die Aufzählung wäre nahezu endlos. Man darf nicht vergessen: Die Bundesrepublik wurde im katholischen Rheinland von katholischen Politiker*innen unter Mitwirkung der katholischen Kirche entscheidend geprägt. An Humanist*innen hat damals niemand gedacht. Diese strukturellen Weichenstellungen in der Frühzeit der BRD verfolgen uns bis heute, und sie sind die Basis für allerlei Privilegien der Religionen. Es wird eigentlich höchste Zeit, endlich damit aufzuräumen. Das geht allerdings nur mit einer politischen Führung, die nicht in diese überholte Struktur verwoben ist und stattdessen etwas Neues, Zeitgemäßeres umsetzen will.

In der Bundespolitik der letzten Dekade spielte das Verhältnis zwischen Staat und Religion und die Frage nach einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen gleichberechtigt und auf Augenhöhe zusammenleben können, durchaus eine größere Rolle. Darin spiegelten sich auch die gesellschaftlichen Debatten dieser Jahre. Wie schätzen Sie heute die Situation ein?

Bauer: Dieses Thema ist zwar aufgeschienen, aber ich bezweifle, dass es politisch wirklich eine große Rolle gespielt hat. Allenfalls vielleicht um zu spalten und Angst zu säen, siehe die Diskussion um Migration und die damit verbundene stärkere Sichtbarkeit des Islam. In den Medien mag das Thema auch ab und zu vorgekommen sein, allerdings leider oft effektheischend, skandalisierend und sogar polarisierend. Von einer ernsthaften Revision und Modernisierung der weltanschauungspolitischen Grundlagen unseres Gemeinwesens sind wir noch weit entfernt. Das geht anderen europäischen Staaten aber auch so. Es ist eben eine komplexe Aufgabe, die auf viele Widerstände trifft.

Was meinen Sie damit genau?

Bauer: Bei solchen Fragen geht es ans Eingemachte, auch ans gesellschaftliche Selbstverständnis. Sind wir wirklich das christlich-jüdische Abendland? Und wenn wir es jemals waren, werden wir es denn auch in Zukunft noch sein? Und wenn nicht, wie definieren wir uns dann? Ein wahrhaft dickes Brett, gerade in Deutschland, wo ein positiver Gründungsmythos, eine gemeinsame emotionale Erzählung, auf die sich alle beziehen können und die alle positiv einbezieht, fehlt. Deutschland existiert vor allem auf dem Verwaltungswege, was angesichts seiner Vergangenheit vielleicht auch gar nicht so schlecht ist.

Wissenschaftler*innen benennen regelmäßig zwei Megatrends, wenn es um wichtige Veränderungen unserer Gesellschaft geht: Säkularisierung, d.h. immer weniger religiöse beziehungsweise religiös aktive Menschen in unserem Land, und Pluralisierung, also eine wachsende Vielfalt an Glaubens- und Lebenseinstellungen. Finden Sie, dass sich diese Trends in der Programmatik und dem Handeln der Bundesparteien widerspiegeln?

Bauer: Nein. Außerdem geht das Verblassen von Religion bei den einen mit ihrer Intensivierung bei den anderen einher. Im Durchschnitt mag das wie eine Säkularisierung aussehen. Aber andererseits bekommt Religion eher wieder eine größere Bedeutung als früher, weil sie vehementer in Erscheinung tritt und von manchen für die Konstruktion der eigenen Identität stärker herangezogen wird. Daher kommt auch der Aufschwung der Identitätspolitik, von der in letzter Zeit ja viel die Rede war, und die immer mehr umgrenzte, durch ihren besonderen Lebensstil, ihre Religion oder ihre Herkunft definierte Gruppen in der Gesellschaft ausmacht und politisch in den Vordergrund rückt. Umso wichtiger ist ein geeigneter rechtlicher und politischer Rahmen, der diese Entwicklungen so zu gestalten hilft, dass nicht die Freiheitsrechte aller unter diesen mal mehr, mal weniger berechtigten Sonderinteressen leiden. Aus meiner Sicht wäre es eine Lösung, eine strikte Gleichberechtigung aller Bürger*innen, wie sie im Grundgesetz angelegt ist, auch politisch und gesellschaftlich zu verwirklichen, und dem Staat die Wächterrolle über diese Gleichberechtigung zu übertragen. Bisher ist es aber eher umgekehrt: Der Staat handelt als Hüter der Ungleichbehandlung und der Privilegien, besonders in Religionsfragen.

Haben Sie für diese Ungleichbehandlung ein Beispiel?

Bauer: Nehmen Sie den Religionsunterricht. In den allermeisten Bundesländern werden nichtreligiöse, humanistische Schüler*innen mit dem pseudo-neutralen Fach Ethik abgespeist. Humanismus ist aber nicht neutral, sondern eine Weltanschauung mit eigenem Standpunkt. Ein Fach, das Schüler*innen dabei unterstützt, diese humanistische Haltung zu entwickeln, zu reflektieren und zu vertiefen, gibt es aber nur sehr selten. Religiösen Schüler*innen wird dieses Recht ganz selbstverständlich zugesprochen. Unsereinem wird aber beschieden, dass Humanismus die weltanschauliche Neutralität der öffentlichen Schule stören würde und daher dort nichts zu suchen hat. Diese Neutralität gelte aber nicht für Religionen. Zu so einer Aussage versteigt sich zum Beispiel die bayerische Staatsregierung. Damit ist sie grundsätzlich aber nicht allein, ähnliche politische Auffassungen gibt es auch in anderen Bundesländern.

Welche wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung, um Privilegien einzelner Religionsgemeinschaften zu überwinden?

Bauer: Ein Anfang wäre es, wenn anerkannt würde, dass es in unserem System Strukturen gibt, die bestimmten Religionsgemeinschaften Privilegien ermöglichen. Dabei geht es nicht darum, den bisher Privilegierten etwas wegzunehmen, sondern denen, die bisher übersehen wurden, zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Ärgernis besteht ja nicht darin, dass es etwa eine christliche Seelsorge bei Militär und Polizei gibt, sondern dass es kein solches Angebot mit humanistischem Inhalt gibt. Da bekommen Menschen etwas nicht, was sie brauchen. Der Gesetzgeber und die Regierung sollten immer mitdenken, dass ihre Regelungen auch für humanistisch eingestellte, nichtreligiöse Menschen taugen müssen, nicht nur für religiöse. So kann man Schritt für Schritt für mehr Pluralität sorgen. Ganz handfest könnte man damit anfangen, die Haushaltsansätze diesbezüglich durchzugehen und immer dann, wenn es eine Neigung zur Bevorzugung von Religion gibt, diese korrigieren. Eine schöne Definition von Politik lautet, sie sei die Verteilung von Mitteln. Voilà, das kann der Weg sein.

Die meisten demokratischen Parteien haben inzwischen ihre Bundestagswahlprogramme veröffentlicht. Erwarten Sie, dass die nächste Bundesregierung weltanschaulich neutraler wird?

Bauer: Nicht wirklich. Die Wahlprogramme von Union, FDP und SPD erwähnen weltanschauliche Prägungen jenseits der Religion entweder gar nicht oder nur ausnahmsweise. Besonders bei der SPD und der FDP ist das schmerzhaft, das war dort schon mal fortschrittlicher. Die Grünen und die Linkspartei sind inzwischen wesentlich weiter, zumindest im Wording. Generell sind alle diese Programme aus humanistischer Sicht leider nicht sehr ambitioniert. Nirgendwo ist beispielsweise festgehalten worden, dass mit allen religiös-weltanschaulichen Gruppierungen, also auch mit humanistischen, ein regelmäßiger Austausch gepflegt werden soll. Ebenso fehlt die Anerkennung der gesellschaftlichen Arbeit der Weltanschauungsgemeinschaften, nicht nur der Kirchen. Aber die Wahlprogramme sind ja nicht alles, es kommt auch auf die handelnden Personen an und ihre gesellschaftspolitische Vision für unser Land. Die derzeitige große Koalition hat jedenfalls keine Fortschritte in den uns bewegenden Fragen gebracht und das halte ich für ein Gemeinschaftsversagen aller beteiligten Parteien. Ich will hier keine Wahlempfehlung abgeben, die HV ist schließlich überparteilich. Aber dieses kann man, denke ich, schon festhalten, als ganz nüchterne Analyse: Die Partei, die recht konsequent eine pluralistische Gesellschaftsvision zugrunde legt, ist die der Grünen. Die Partei, die sehr viel Wert auf die persönliche Freiheit in allen Dimensionen legt, ist die FDP. Pluralismus für das Gemeinwesen und Freiheit für die Einzelnen sind zwar nicht die einzigen, aber zweifellos ziemlich wichtige humanistische Werte in der Politik. Eine Koalition, in der diese beiden Parteien Bestandteile sind, wäre also für unsere Anliegen wohl von Vorteil.

Eine der Fragen, für die sich vergangene Bundesregierungen und sogar frühere Reichsregierungen besonders viel Zeit gelassen haben, sind die jährlichen Zahlungen in mehrstelliger Millionenhöhe an die großen Kirchen, die sogenannten Staatsleistungen. Die Fraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und LINKE haben einen Entwurf eines Grundsätzegesetzes zur Ablösung dieser Staatsleistungen vorgelegt, der am 6. Mai im Bundestag abgelehnt wurde. Wie steht die Humanistische Vereinigung zu dieser Frage?

Bauer: Die Staatsleistungen betreffen inzwischen nicht mehr nur die evangelische und katholische Kirche, sondern sie sind auch die Grundlage für eine Vielzahl weiterer Leistungen an andere Religionsgemeinschaften, auch manchmal an Weltanschauungsgemeinschaften. Dass dieses Thema hundert Jahre lang liegen gelassen worden ist, zeigt nach meinem Eindruck, dass es nicht sehr dringlich ist. Deshalb sollte man sich die Zeit nehmen, um eine wirklich gute und faire Lösung zu finden. Einfach den Geldkübel über den Kirchen auszuschütten und ihnen viele Milliarden als Schlusszahlung zu überweisen, kann nicht die Lösung sein. Bekanntlich sind sie bereits jetzt nicht die Bedürftigsten im Lande. Besser wäre es, dieses Budget herzunehmen und zu fragen: Was können wir damit finanzieren, um unsere Gesellschaft fit für die Zukunft zu machen? Da können alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften überlegen, was ihr Beitrag dazu sein kann und ihre Projekte vorschlagen. Davon hätten alle etwas. Also Ablösung im Sinne von Ablösung durch etwas Sinnvolles anderes, nicht Erledigung durch eine gigantische Schlusszahlung. Aus meiner Sicht haben die historischen Staatsleistungen, die ja auf Napoleons Neuordnung der deutschen Feudalregime zurückgehen, heute keinerlei Legitimität mehr und befinden sich daher gar nicht in einer juristischen, sondern in einer politischen Sphäre. Somit sind sie frei gestaltbar. Davon abgesehen stünde es den Kirchen nach 200 Jahren Kasse machen gut an, auf weitere Zahlungen zu verzichten und dieses aus der Zeit gefallene Problem damit selbst aus der Welt zu schaffen.

Ein für Humanist*innen zentrales Thema ist das Recht auf Selbstbestimmung. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Jahr zum Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende steht die Bundesregierung unter Handlungsdruck, gute Regelungen zur Verwirklichung dieses Rechts umzusetzen. Inzwischen liegen mehrere Gesetzentwürfe vor, darunter auch einer der Humanistischen Vereinigung. Ende April fand eine erste Orientierungsdebatte im Bundestag statt. Wie bewerten Sie die Programmatik der Parteien in diesem Bereich?

Bauer: Die meisten Entwürfe sind immer noch sehr restriktiv und paternalistisch. Besonders das, was der CDU-Gesundheitsminister, Jens Spahn, da anscheinend ausarbeitet, ist wenig erfreulich. Die Absicht dahinter ist letztlich wieder prohibitiv. Dabei hat das Gericht klar geurteilt, dass es keine zu hohen Hürden geben darf. Eine vorhergehende Beratung durch eine unabhängige Instanz halte ich allerdings für angemessen und vielleicht sogar hilfreich, auch in Abwägung zur Schutzpflicht des Staates. Mehr aber nicht. Ich freue mich daher über das aktuelle Diskussionspapier der Leopoldina dazu, das alle wesentlichen Vorschläge, die wir als Humanistische Vereinigung zu dieser Sache gemacht haben, abbildet. Dieses Papier weist den richtigen Weg. Man kann nur hoffen, dass der Bundestag nicht abermals den kirchlichen Einflüsterungen erliegt und eine angemessene und vor allem legale Regelung findet. Es wäre verheerend für alle Hilfesuchenden, wenn aufgrund der privaten Moralvorstellungen von Abgeordneten ein illegales Gesetz beschlossen werden würde und es deshalb noch viele weitere Jahre dauert, bis endlich die Selbstbestimmung am Lebensende auch in Deutschland angemessen verwirklicht wird.

Die Humanistische Vereinigung setzt sich außerdem für die Einrichtung einer Militärseelsorge für nichtreligiöse und konfessionsfreie Soldat*innen bei der Bundeswehr ein. Warum braucht es hier ein humanistisches Angebot?

Bauer: Weil humanistische Seelsorge ein Bedürfnis der Soldat*innen abdeckt, nämlich als Menschen Unterstützung im Dienst zu erhalten und besonders bei Krisen und Sinnfragen eine*n Ansprechpartner*in zu haben, der*die weltanschaulich auf einer Wellenlänge mit ihnen ist. Die humanistische Seelsorge ist ein wichtiger Arbeitsbereich der Humanistischen Vereinigung geworden. Wir bauen hier gerade ein bundesweites Netz von humanistischen Seelsorger*innen auf. Das betrifft übrigens nicht nur das Militär, sondern alle Bereiche, in denen Seelsorge sinnvoll und notwendig ist, darunter auch Krankenhäuser, Gefängnisse und Notfall- und Krisensituationen. Auch in unserer Einrichtung für Seeleute in Oldenburg sind humanistische Seelsorgende tätig. Bei der Bundeswehr ist dieses Thema überfällig, denn über die Hälfte der Truppe ist nichtreligiös. Dennoch wird diesen Soldat*innen vom Dienstherren nur ein religiöses Angebot bei Sinnkrisen und anderen Lebensfragen gemacht. Das ist nicht mehr zeitgemäß und es ist im Sinne der Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Soldat*innen ziemlich übergriffig. Andere NATO-Staaten sind hier schon viel weiter und respektieren humanistische Werthaltungen besser, etwa die Niederlande und Belgien, wo die humanistische Seelsorge zu den festen Bestandteilen der Angebote für die Truppe gehört. In Norwegen und Großbritannien laufen auch erste Projekte. In unserem Eckpunktepapier für eine Humanistische Militärseelsorge in der Bundeswehr haben wir unsere Forderungen dazu festgehalten. Wir haben dazu in den vergangenen Monaten viele Gespräche im Bundestag geführt, auch mit der Wehrbeauftragten Eva Högl, und dabei meistens große Offenheit erfahren. Manche haben aber auch Vorbehalte, die wir noch ausräumen wollen. Wir freuen uns, dass der Bundeswehrverband das Thema aufgegriffen hat, mal sehen ob das zusätzliche Bewegung in die Sache bringt. Wie man sich denken kann, steht die christliche Leitung des Ministeriums unserem Ansinnen ablehnend gegenüber und meint, dass die Humanist*innen doch zum Psychologen können, um sich dort therapieren zu lassen. So etwas hören wir leider oft. Humanismus ist aber keine geistige Fehlstellung, die man behandeln müsste. Man sieht: Das ist eines der üblichen dicken Bretter, die wir bohren müssen. Wir bleiben also auch in der kommenden Legislatur dran.

Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema: Seit 2019 vergibt das Humanistische Studienwerk regelmäßig Stipendien für talentierte Studierende. Das Studienwerk erbringt diese Förderung aus Eigenmitteln und Spenden; anders als für die Hilfswerke verschiedener Religionsgemeinschaften gibt es dafür bisher keine Zuwendungen vonseiten des Bundesbildungsministeriums. Warum unterstützt die aktuelle Bundesregierung nicht alle weltanschaulichen Träger, die sich für die Begabtenförderung engagieren?

Bauer: Weil das Ministerium, und allen voran die CDU-Bildungsministerin, Anja Karliczek, es politisch nicht wollen. In einer Anfrage der FDP hat das Ministerium die Kriterien für eine Anerkennung als Förderwerk genannt, und wir erfüllen sie alle. Außerdem befinden wir uns ja inzwischen schon in der dritten Förder- und Auswahlrunde, haben also schon Erfahrung mit dieser Tätigkeit. Wir arbeiten mit der Studienstiftung des deutschen Volkes zusammen und partizipieren an Sonderprogrammen des Bundes zur Förderung bestimmter ausländischer Studierender. Das hilft aber alles nichts, denn im Bundesbildungsministerium wird der Humanismus für gesellschaftlich irrelevant gehalten. Gegen diese Auffassung haben wir Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht in Köln eingereicht. Letztlich ist es aber wohl keine rechtlich zu klärende, sondern eher eine politische Frage. Dennoch haben wir den Gerichtsweg gewählt, auch um gegenüber dem Bund deutlich zu machen, dass wir uns nicht jede Unverschämtheit klaglos bieten lassen.

Die Coronavirus-Pandemie ist noch nicht vorbei, aber ihr Höhepunkt liegt hoffentlich schon hinter uns. Die Klimakrise befindet sich hingegen erst noch im Anlauf. Ein UN-Menschenrechtsausschuss hatte Anfang 2020 erklärt, dass Geflüchteten das Recht auf Asyl nicht verweigert werden darf, wenn ihr Leben aufgrund des menschengemachten Klimawandels in Gefahr ist. Die Bundesregierung erklärte dazu, dass sie die Flucht vor klimatischen Veränderungen nicht als Asylgrund anerkennen wolle. Eine aus humanistischer Perspektive gerechtfertigte Haltung?

Bauer: Das ist eine sehr schwierige Frage. Schließlich geht es um viele Menschen, die in Not sind, da können wir nicht einfach Abseits stehen und hoffen, dass diese Herausforderung an uns vorbeizieht. Neben der konkreten Nothilfe sollte unser Fokus, gerade als wohlhabende und technologisch fortgeschrittene Nation, mindestens ebenso auf der Bekämpfung der Ursachen von Migrationsbewegungen liegen. Niemand verlässt seine Heimat gerne oder aus Spaß, das passiert weil die Menschen keine andere Wahl haben oder für sich keine Zukunft mehr in ihrer Heimat sehen. Diese Migrationsauslöser betreffen Kriege, Hunger, Klima gleichermaßen. Leider haben wir es da in der Politik noch mit viel Heuchelei zu tun, wirkliche Fortschritte in der Fluchtursachenbekämpfung gibt es trotz aller Sonntagsreden viel zu wenige. Dabei werden in den betroffenen Regionen Probleme einer solchen Dimension auf uns zukommen, dass sie ohne ein massives Engagement kaum lösbar sein werden. Vorausschauende Politik hat das auf dem Schirm, auch aus Eigeninteresse. Deshalb finde ich es sehr bedauerlich, dass ein so engagierter, global denkender Politiker wie der Entwicklungsminister Gerd Müller von der deutschen politischen Bühne abtritt, und das nicht ohne eine gewisse Frustration. Auch wenn wir die aus unserer Sicht zu starke Betonung des Religiösen während der Amtszeit von Herrn Müller kritisieren, seine aufrechte Haltung zu Menschenrechten und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung verdient unseren Respekt. Trotzdem werden wir natürlich auch bei seiner Nachfolger*in eine weltanschaulich plurale Strategie für die Entwicklungs- und Katastrophenhilfe einfordern.

Wenden wir uns zum Schluss noch der Außenpolitik zu: Die Humanistische Vereinigung fordert schon seit langem mehr Schutz für bedrohte Humanist*innen. In den Wahlprogrammen findet sich dazu kaum etwas. Welche Forderungen haben Sie hier an die nächste Bundesregierung?

Bauer: Dass sie Menschen, die sich für Humanismus, Meinungsfreiheit, Vielfalt von Lebensentwürfen, für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, nicht im Regen stehen lässt, sondern ihnen aktiv hilft, beispielsweise durch privilegierten Zugang zum Asylverfahren. Die Öl- und Rüstungsinteressen und die Furcht vor islamistischem Terror dürfen nicht dazu führen, menschenrechtsfeindlichen Regimen alles durchgehen zu lassen. Die noch amtierende Regierungskoalition hat sich in dieser Legislatur besonders dem Schutz der Christ*innen verschrieben. Solche einseitigen und ein wenig befremdlichen Schwerpunktsetzungen dürfen nicht fortgesetzt werden. Menschenrechte sind für alle da, nicht nur für Christ*innen.

Vielen Dank für diese Einblicke und das interessante Interview, Herr Bauer.

 

 

Kurzportrait Michael Bauer

Michael Bauer (Dipl.-Politologie) ist seit Oktober 2011 Vorstand der Humanistischen Vereinigung. Zuvor war er seit 2000 Geschäftsführer des HVD-Nürnberg. Weiterhin ist er Präsident der European Humanist Federation und arbeitet ehrenamtlich in vielen weiteren humanistischen und sozialen Organisationen, zum Beispiel als Verbandsrat des Paritätischen in Bayern. Mehr Infos unter: www.michaelbauer.info

Über die Humanistische Vereinigung

Die Humanistische Vereinigung (HV; vormals HVD Bayern) ist eine Weltanschauungsgemeinschaft, die 1848 gegründet wurde. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und als Interessenvertretung nicht-religiöser Menschen anerkannt. Bundesweit zählt sie ca. 2.200 Mitglieder. Mit ihren Angeboten erreicht sie jährlich rund 40.000 Menschen. Die HV steht für einen praktischen Humanismus, der auf einer humanistischen Ethik beruht. Sie ist Mitglied etlicher nationaler und internationaler Vereinigungen und Dachverbände, in denen sie ihre Ziele einbringt und gemeinsam mit anderen Organisationen verfolgt. Mehr Infos unter: www.humanistische-vereinigung.de

HIER können Sie das ganze Interview als PDF herunterladen.

Facebook ButtonTwitter ButtonInstagramm Button

So können Sie unsere Internetseite im Browser vergrößern, um die Lesbarkeit noch weiter zu steigern und natürlich auch verkleinern:

Die Strg-Taste (Strg = Steuerung) ist jeweils ganz rechts und links in der untersten Tastenreihe zu finden. Auf englischen Tastaturen heißt diese Taste Ctrl (= Control). Beim Mac anstelle der Strg- die Befehl-Taste (cmd) drücken.

  1. Strg-Taste gedrückt halten und +/- Tasten drücken. Im Firefox und Google Chrome kann die Größe mit Strg und 0 wieder auf Standard zurückgesetzt werden.
  2. Strg-Taste gedrückt halten und Mausrad drehen. Internet Explorer (IE): Nach oben drehen = vergrößern. Firefox: Nach oben drehen = verkleinern.
  3. Über das Menü: Im IE lässt sich die Schriftgröße im Menü Ansicht > Textgröße in fünf Größen ändern. Beim Firefox kann man über das Menü Ansicht > Schriftgrad die Darstellungsgröße schrittweise verändern oder zurücksetzen, die Tastenkürzel stehen daneben.

Alle 3 Möglichkeiten funktionieren zumindest im Internet Explorer und im Mozilla Firefox, die Variante 1. ist auch bei vielen anderen Browsern Standard.